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Fundstück 1 - der Ast


Heute fuhr ich nach einem Arztbesuch mit dem Velo nach Hause. Ich fühlte mich erschöpft und leer, trübe gestimmt. Wie üblich versuchte ich, meinen inneren Impulsen zu lauschen. So bog ich spontan ab und fuhr eine mir unbekannte Strasse entlang, die mich anlächelte. Steil und gewunden führte sie mich an schmucken Altbauhäusern vorbei direkt zur Aare. In meinem Gepäck hatte ich eine Kranichfeder. Diese hatte mir während Monaten mein Zuhause verschönert, mir Freude geschenkt und war mir ein wichtiges Symbol für meine innere Freiheit geworden. Ich hatte beschlossen, sie wieder der Natur zu übergeben; sie hatte mir ihre Botschaft geschenkt.

 

Die Aare, so schien mir, sei ein würdiger Platz, um meine Feder ziehen zu lassen. Ich suchte und fand einen Zugang am dicht bewachsenen und abschüssigen Ufer, stieg vorsichtig hinunter und setzte mich auf einen flachen Stein direkt am Wasser. Ich streichelte behutsam die feine Fahne und der feste Kiel meiner weiss und taupe gefärbten Feder und bedankte mich bei ihr. Tatsächlich hatte ich zu ihr eine Bindung entwickelt, die ich jetzt wieder lösen wollte. Als der richtige Moment gekommen war, legte ich sie sanft auf die Wasseroberfläche. Sie schaukelte langsam von dannen, und ich nahm wahr, wie meine Sicht der Tränen wegen verschwamm. Eine eigenartige Mischung aus Traurigkeit, Wehmut, Freude und Liebe erfüllte mich. Ich schaute meiner Botin lange nach. Der tanzende, helle Fleck wurde kleiner und kleiner, und verschmolz irgendwann mit seiner Umgebung. Mit offenem Herzen sass ich regungslos auf meinem Stein, spürte die Kälte empfindlich an meinen Pobacken und die Müdigkeit schwer in allen Gliedern.

 

Und nun?

 

Ich sah mich um und nahm erst jetzt meine Umgebung richtig wahr. Viel Schwemmholz lag da und zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sah einen wohlgeformten Ast direkt vor mir liegen, ergriff ihn im Sitzen, und war schlagartig wach und verzaubert zugleich von der feinen Oberfläche des glatt polierten Holzes in meiner Hand. Der haptische Eindruck war so stark, dass meine Erkundungslust geweckt war. Was zeigte sich mir da?

Von kranichfedergraubrauner Farbe, unglaublich feinem Griff und geschwungener Eleganz war dieser Zweig. Ganz nah nahm ich ihn zu mir, um sein Wesen zu erfassen mit all meinen Sinnen. Ich sah von fliessendem Wasser über lange Zeit glänzend glatt polierte Holzfasern. Die graubraue Farbe schimmerte marmoriert in edler Zurückhaltung beinahe silbern. Durch die erforschende Berührung meiner Finger ertönte ein leises, hohl-trockenes Geräusch. Ich roch sogar daran, doch Wasser und Sonne hatten meinem Fund jeden Geruch entzogen.

                                 

Es hatte noch sehr viel mehr solch geschwungener Hölzer hier liegen, die einer spontanen, mit leichter Künstlerhand mühelos hingeworfenen Linie in einer abstrakten Zeichnung ähnelten. Meine Augen glitten über diesen Fundus an visuellen Lehrstücken der Natur, ich stand auf und begab mich auf einen Erkundungsgang.

Ich zupfte und zog energisch am dem einen, dann an dem anderen und noch an einem Ast, um sie den geballten Schwemmholzhaufen zu entlocken. Manche liessen sich nicht befreien und steckten fest. Doch wieder andere bogen und streckten sich selbstsicher meinen neugierig klaubenden Fingern entgegen, überzeugt davon, dass sie mir gefallen würden und liessen sich mit leichter Hand erobern.

 

Ich stöberte und staunte, und ging ganz im Finden und im Moment auf. Als die Kirchenglocken laut und deutlich die Mittagszeit verkündeten, spürte ich meinen Hunger. Ich wählte die mir allerliebsten Fundstücke mit Bedacht aus, krabbelte das Bord hoch zu meinem Velo und klemmte die Beute auf den Gepäckträger. Jetzt hatten mir wieder andere Boten der Natur ihre Mitteilung übergeben:

 

DIE NATUR IST MEINE GRÖSSTE LEHRERIN. ES IST ALLES DA. DER JETZIGE MOMENT IST ALLES.

 

Alles Liebe, Barbara 


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Kommentare: 2
  • #1

    Maja (Mittwoch, 27 Oktober 2021 11:34)

    Schön!

  • #2

    Mirjam (Freitag, 29 Oktober 2021 08:06)

    Ich war ganz mit dir dabei, danke für den Ausflug☺️